„Nicht Afghanistan – hier ist die Katastrophe“

Es wird kalt und in den vielen zerstörten Häusern im Ahrtal fehlt die Heizung. Es muss dringend gehandelt werden, doch die Mühlen der Behörden mahlen langsam.
Titelbild
Die zwei Tunnel mit der Eisenbahnbrücke waren beliebtes Ausflugsziel in Altenahr. So sieht es nach der Flutkatastrophe immer noch aus.Foto: Matthias Kehrein
Von und 29. August 2021

Baggerfahrer Günter Döhnert hat eine ganz besondere Verbindung zum Ahrtal. Auf der Burg Are, auf die man von Altenahr aus schaut, hat er sein erstes Mädchen geküsst. Damals hat er nie im Traum daran gedacht, dass er viele Jahre später aus viel weniger schönen Gründen hier wieder aktiv sein wird. 5.000 Euro hat er ausgegeben, um einen Bagger zu mieten und seitdem schafft er unermüdlich damit Schutt aus dem Tal.

Sechs Wochen nach der verheerenden Flut im Ahrtal bietet sich ein trostloses Bild. Nachdem die Straßen vom Schwemmgut geräumt worden sind, wird sichtbar, wie groß die Katastrophe wirklich ist. Geblieben sind menschenleere Häuser an einem stillen braunen Fluss, der über Nacht so viele Existenzen und Menschenleben zerstört hat und nun nichts mehr von seiner zerstörerischen Kraft erahnen lässt.

Die Menschen, die ihr Hab und Gut verloren haben, sind bei Freunden und Verwandten außerhalb des Tals untergekommen. Viele freiwillige Helfer sind frustriert nach Hause zurückgekehrt. Die noch geblieben sind, ärgern sich über schlechte Organisation, fehlende Gelder und umständliche Bürokratie. Die Existenz des gesamten Tals steht auf dem Spiel.

Man braucht Kraft und Ausdauer, um hier weiterzumachen. An Wiederaufbau ist noch nicht zu denken. Viele noch stehende Häuser müssen entweder abgerissen oder entkernt werden. Das bedeutet erneut Dreck und Bauschutt, der weggeschafft werden muss.

Von 620 Häusern 550 zerstört

Ortschaften, die zur Verbandsgemeinde Altenahr gehören, erstrecken sich über 20 km entlang des Flusses. Die Infrastruktur, zu der nicht nur Straßen, Brücken und Bahnschienen gehören, sondern auch Wasserleitungen, Abwasserleitungen, Kläranlagen, Strom und Mobilfunk ist insofern wieder hergestellt, als wichtige Brücken behelfsmäßig wieder passierbar sind und der Mobilfunk funktioniert.

In verschiedenen Ortslagen sind von insgesamt 620 Häusern 550 zerstört worden. Die Nächte werden kühler und in diesen Häusern fehlt es an Heizung. Wo der Strom wieder funktioniert, kann er wegen der Nässe oft nicht genutzt werden. „Hier muss dringend gehandelt werden, sonst ist im Winter keiner mehr da“, sagt Cornelia Weigand, Bürgermeisterin der Verbandsgemeinde Altenahr.

Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (Mitte) hier mit der Bürgermeisterin von Altenahr, Cornelia Weigand (rechts). Foto: TORSTEN SILZ/AFP via Getty Images

Allerdings weiß im Moment keiner, wie man unter der Prämisse zukünftiger Schadensvermeidung vernünftige Aufbauarbeit leisten soll. „Wir wissen nicht, wie ein zukünftiger Flut- und Hochwasserschutz aussehen soll“, sagt Weigand ratlos. „Was jede Kommune bisher für sich gemacht hat, muss nun für das ganze Tal gedacht werden. Das müssen Wissenschaftler erarbeiten, auf Landes- und auf Bundesebene, das muss alles gleichzeitig passieren. Erst dann können wir vernünftigen Gewissens wieder aufbauen.“

Die Marathonläuferin, die seit einigen Jahren Regie im Ahrtal führt, hatte gemeinsam mit Ortsbürgermeistern der betroffenen Gemeinden einen offenen Brief mit 10 Forderungen an Bundeskanzlerin Angela Merkel und die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer geschrieben. Das Ausmaß des Leids und der Verwüstung habe man sich allein durch Bilder und Fernsehaufnahmen nicht vorstellen können, deshalb sei es für sie wichtig gewesen, die Politiker vor Ort zu holen. Ein 30-Milliarden-Euro-Hilfsfonds ist daraufhin bewilligt worden, das gebe Hoffnung. Dazu gehöre auch die Botschaft, dass die Geschädigten ohne Versicherung mit bedacht werden sollen.

Aber noch fließt kein Geld. Der Bundestag hat die Wiederaufbauhilfe am 25. August zwar auf den Weg gebracht, wird ihn aber voraussichtlich erst am 7. September in einer weiteren Sondersitzung beschließen. Für den 10. September ist eine Sondersitzung des Bundesrats geplant.

Bratwurst mit Pommes und ein Audi R8 Sportwagen

In der Ortsmitte von Altenahr, neben der Kirche, ist ein Treffpunkt für Helfer. Hier gibt es Pommes und Bratwurst, mit einem Bier kann man die Nerven beruhigen. „Nicht Afghanistan – hier ist die Katastrophe“, hört man die Leute sagen.

Ein Haus, von dem nur noch die Kellermauern stehen, lässt erahnen, dass ein Imker hier wohnte. Zwei Kisten für Bienenstöcke stehen noch da, eine Biene zieht einsam ihre Kreise drumherum.

Unter den vielen Pkw, die die Ahr runtergespült wurden, war auch ein Audi R8 Sportwagen für 140.000 Euro. Der Eigentümer hat das völlig platt gedrückte Auto wiedergefunden und sich vor die Haustür gestellt.

Überreste eines Hauses in Altenahr. Links das Zubehör eines Imkers. Foto: Matthias Kehrein

Ein zerquetschter Audi R8 Sportwagen für 140.000 Euro. Foto: Matthias Kehrein

Die Gleise der Ahrtalbahn sind völlig zerstört. Ein paar hundert Meter flussabwärts, wo die Bahn normalerweise über eine gemauerte Brücke fährt, bevor sie in einem Tunnel verschwindet, hängen die Bahngleise samt Schwellen über den Brückenbögen quer in der Luft. Die Reste eines Wohnwagens haben sich hier verfangen. Die alte Eisenbahnbrücke, die vor dem Hochwasser von Radfahrern und Wanderern genutzt wurde, ist zerstört.

Die Deutsche Bahn ist zuversichtlich, dass die Züge zumindest auf den weniger stark zerstörten Streckenabschnitten im Ahrtal bis Ende dieses Jahres wieder fahren. An Tourismus wie vor der Katastrophe wird jedoch über Jahre nicht zu denken sein.

Bahngleise hängen über der zerstörten Brücke. Foto: Matthias Kehrein

Baumaterialien sind durch Corona knapp geworden

Bürgermeisterin Weigand hofft indes auf mehr Geschwindigkeit bei den Behörden. „Die Abstimmungen darüber, wie etwas gemacht werden soll, wer schickt Gutachter, von wem werden sie bezahlt, wo werden mehr Leute gebraucht – das muss alles schneller gehen. Das läuft sehr mühsam.“ Hier müsse man mehr „out of the box“ denken und das Problembewusstsein erhöhen. Sie wünscht sich kürzere Entscheidungswege in den Ministerien.

Vor Ort gibt es nun einen Sonderbeauftragten. Allerdings sei abzuwarten, ob er die nötige Schlagkraft besitzt, die dringendst benötigten Dinge in der Landeshauptstadt Mainz durchzusetzen.

„Wir sind eine der besten Rotwein-Anbauregionen der Welt und eine wunderschöne Touristengegend gewesen mit tollen Menschen in den Dörfern. Das wollen wir für uns erhalten. Jeder hier hat sein Zuhause verloren, seinen persönlichen Schutzraum und auch seine Heimat“, sagt Weigand mit Wehmut.

Wenn wir nicht bald Perspektiven bekommen, sind die Leute alle weg und kommen vielleicht nicht wieder.“

Weigand bleibt realistisch und hat den Fokus auf den Bund gelegt. Geld und Experten sind jetzt am meisten gebraucht. Aber auch Arbeitskräfte und Materialien, doch sind diese durch Corona besonders im Bausektor knapp geworden. „Baustellen auf Landes- und Bundesebene, die nicht so notwendig sind, müssten jetzt nach hinten priorisiert werden“, sagt sie. Wenn sie von den Häusern, Straßen, Bahnschienen und Brücken spricht, die alle neu gebaut werden müssen, denkt sie im Zeitrahmen von 3 bis 5 Jahren.

„Die machen Sachen mit uns, das ist nicht richtig“

133 Menschen sind laut Polizeiangaben allein im Ahrtal durch die Flut ums Leben gekommen, vier werden immer noch vermisst. 766 wurden verletzt, Tausende traumatisiert.

Etwas entfernt hört man die Klänge des Trompeters Franz Graf, der seit fünf Wochen von Ort zu Ort zieht, um den Menschen mit seiner Musik Trost zu spenden und Mut zu machen. Er spielt aber auch für die „unzähligen Toten“, wie er selbst sagt. „So viele“ seien hier „das Tal hinunter gerauscht“ und „elendig zu Tode gekommen“.

„Ich höre sie nachts schreien im Tal und ich spiele, damit sie ihre Heimat finden“, sagt der Mann aus Oberbayern unter Tränen und einem Unterton von Groll. Für ihn hat die Politik hier versagt. „Die machen Sachen mit uns, das ist nicht richtig. Und wir hören nicht auf, bis diese Menschen ganz klar benannt werden, die hier seit Wochen riesige Fehler machen und von uns ihre Pensionen bekommen.“

Trompeter Franz Graf will den Menschen Trost spenden. Foto: Matthias Kehrein

Helfer-Shuttle koordiniert freiwillige Helfer

Hoffnung geben den Gebliebenen die vielen freiwilligen Helfer, ohne die das Tal verloren gewesen wäre. Betreut und eingeteilt werden sie inzwischen von einem Helfer-Shuttle (helfer-shuttle.de), der etwas außerhalb sein Lager aufgeschlagen hat. Dort gibt es Toiletten, Duschen und Verpflegung für die Helfer, am besten bringt man das eigene Zelt mit. Ein Shuttle-Service bringt die Helfer dahin, wo sie gebraucht werden. Damit beugt man Chaos auf den Straßen vor. Abends sitzen alle zusammen und ziehen Resümee.

„Das Herausfordernde ist, dass man die Leute nicht nur praktisch unterstützt, sondern auch seelisch, sagt Bundeswehrsoldatin Ute Doemges, die das Lager in Altenahr koordiniert. Dafür hat sie sich vier Wochen Urlaub genommen. „Viele brauchen hier einfach mal ein Ohr, das zuhört.“

Handwerker aller Couleur würden gebraucht, aber auch immer noch Leute, die einfach den Schlamm aus den Häusern holen. Und auch das Geld vom Bund müsse endlich kommen, damit die Unternehmer, die hier schon lange mit ihren schweren Maschinen arbeiten, auch bezahlt werden können, so die Helferin.

Das steht im Gesetzentwurf der Koalition

Am 10. September könnte es also so weit sein. Der Fonds soll geschädigten Privathaushalten, Unternehmen und anderen Einrichtungen zugutekommen sowie zur Wiederherstellung der Infrastruktur eingesetzt werden. An der Rückzahlung der Hilfsgelder sollen sich die Länder zur Hälfte beteiligen, indem sie bis zum Jahr 2050 Anteile am Umsatzsteueraufkommen an den Bund abtreten.

Der Wiederaufbau von Infrastruktur des Bundes wie Bundesstraßen wird gesondert durch den Bund finanziert.

Der Gesetzentwurf der Koalition sieht auch vor, die Insolvenzantragspflicht temporär auszusetzen – bei Fällen, in denen die Zahlungsunfähigkeit auf den Auswirkungen der Starkregenfälle oder des Hochwassers beruht und begründete Aussicht auf Sanierung besteht. Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf Änderungen unter anderem beim Pfändungsschutz vor, um Betroffenen mit Finanzengpässen Luft zu verschaffen.

Ein weiterer Bestandteil des Gesetzentwurfs sind Regelungen für eine bessere Warnung der Bevölkerung bei künftigen ähnlichen Ereignissen. So werden Mobilfunkbetreiber zur Einrichtung eines CB-Systems verpflichtet, mit dem an alle in einer Funkzelle eingebuchten Mobiltelefone eine Mitteilung verschickt werden kann.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung Aufgabe 7 vom 28.08.2021. 



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